Damals in Polditown (2): „Du, ich glaub‘ die Reichsbrücke ist weg“

Im Jahr 2017 unternimmt polditown.at im Rahmen der Serie „Damals in Polditown“ Zeitreisen in die Vergangenheit der Leopoldstadt. Zeitzeugen erzählen in Gesprächen über ihre Erinnerungen an den zweiten Bezirk und ermöglichen so einen Einblick in die Leopoldstadt „von gestern“. Teil 2 der Serie basiert auf den Erinnerungen von Inge Lauda (Jahrgang 1947). Kommentare und Ergänzungen sind ausschließlich erwünscht, gerne auch per E-Mail an polditown@sastre.at.

Es war wie ein Donnerschlag, der die damals 29-jährige Inge Lauda am frühen Morgen des 1. August 1976 aus dem Schlaf riss. „Es gab einen riesigen Knaller, mein Kind war sofort munter. Ich bin zum Fenster und sag‘ zu meinem Mann: ‚Du, ich glaub‘ die Reichsbrücke ist weg.‘ Er hat mich im Halbschlaf nur gefragt ob ich spinne und hat weitergeschlafen“, erinnert sich Inge Lauda vierzig Jahre später im Gespräch mit polditown.at an den denkwürdigen Augenblick zurück.

Von ihrer Wohnung im vierten Stock eines Gemeindebaus Ecke Engerthstraße/Wachauer Straße aus waren normalerweise die Spitzen der in den 1930ern errichteten zweiten Reichsbrücke zu sehen. Doch diese fehlten plötzlich an jenem Sonntag, stattdessen stieg eine Rauchwolke in den frühen Wiener Morgenhimmel. „Ich habe mein Kind angezogen und dann sind wir vorgegangen bis zum Mexikoplatz. Da war dann klar, dass die Reichsbrücke tatsächlich eingestürzt war. Eine halbe Stunde später war dann schon der erste Würstelstand für die Schaulustigen da“, erzählt Inge Lauda, deren Vater als Stahlbauschlosser beim Bau der Brücke beschäftigt war. Sein Arbeitgeber war die Wiener Brückenbau und Eisenkonstruktions AG, deren Werk sich bis Anfang der 1960er in der Engerthstraße 115 befand.

Züge der Linien 5 & Ak am Praterstern (um 1935). „Wir sind bei den Straßenbahnen oft auf- und abgesprungen. Das war nicht so gefährlich, man hat nur immer das Risiko richtig einschätzen müssen“, erinnert sich Inge Lauda an früher. (Foto: Wiener Linien/bildstrecke.at)

Geboren in Hirschstetten, wuchs Lauda bis zu ihrem vierten Lebensjahr in der Glockengasse auf. „Das war ein einstöckiges Haus ohne Dachstuhl, im Nebengebäude befindet sich heute an der Ecke zur Taborstraße ein Spar. Auf der ebenen Dachfläche bin ich oft mit meinen beiden Brüdern gesessen, um im Auftrag unserer Mutter Erbsen auszulösen. ‚Ihre Kinder sitzen schon wieder am Dach und hauen uns die Erbsen am Kopf‘, haben sich die Nachbarn dann immer bei meiner Mutter beschwert.“ Von der Glockengasse zog die Familie 1952 in den Wachauerhof in der Wachaustraße, wo Lauda ihre Jugendjahre verlebte. „Die Waschküche war oben im Dachstuhl, dort wurden einmal im Monat die Kinder in einem Trog gebadet.“ Laudas Mutter war als Miedernäherin in Heimarbeit tätig. Die von ihr produzierten Waren brachten die Kinder mit den Straßenbahnlinien B/Bk (Lasallestraße) und AK (Ausstellungsstraße) zu Kunden und Geschäften in die Stadt. „Wir sind bei den Straßenbahnen oft auf- und abgesprungen. Das war nicht so gefährlich, man hat nur immer das Risiko richtig einschätzen müssen. Wenn die Bahn zum Beispiel bei der Reichsbrücke schon zur Kreuzung gefahren ist, habe ich nicht gewartet, bis sie über der Kreuzung bei der Haltestelle war, sondern bin schon vorher abgesprungen.“

Der Vorgartenmarkt wurde in seiner heutigen Form Anfang der 1960er-Jahre errichtet. (Foto: ÖNB/www.bildarchivaustria.at, 1964)

Anschließend war Inge Laudas Mutter zehn Jahre lang als Verkäuferin in einem Gurkerlgeschäft am nahen Vorgartenmarkt tätig. „Damals verlief der Markt noch zwischen Jungstraße und Ennsgasse direkt entlang der Vorgartenstraße. Da gab es noch Leben auf dem Markt und man hat dort richtig einkaufen gehen können. Mein Bruder musste für meine Mutter immer als Tragesel herhalten.“ Neben dem Vorgartenmarkt erwies sich auch die nahe Umgebung als guter Nahversorger. „Im Foto-Atelier Knoll im Lasallehof hat unsere Familie über Jahrzehnte hinweg alle Fotos machen lassen. In der Lasallestraße gab es auch einen guten Optiker und unten bei der Venediger Au ein großes Möbelgeschäft“, erzählt Lauda. Noch heute schwärmt sie auch vom Greißler des Herrn Steiner in der Wachaustraße. „Einmal die Woche wurde ein Eisblock zur Kühlung gebracht und jeden Morgen wurde die frische Milch mit einem Pferdewagen angeliefert. Anschließend sind die Anrainer gekommen und haben die Pferdeäpfel aufgeklaubt, denn das war ein guter Dünger für ihre Gärten“, sagt Lauda. Herr Steiner hat praktischerweise in seiner Greißlerei auch gewohnt, man konnte in Notfällen also auch außerhalb der Öffnungszeiten bei ihm vorbeischauen. „Wenn wir mal etwas vergessen hatten, hat uns unsere Mutter runtergeschickt. ‚Gehst hinter, klopfst an beim Herrn Steiner‘, hat sie dann immer gesagt. Das war schon sehr praktisch. Aber beim Wurst-Schneiden hast ihm nebenbei die Hose flicken können, weil er so langsam war“, erzählt Lauda.

Blick in die Lasallestraße in Richtung Praterstern (Foto: ÖNB/www.bildarchivaustria.at, 1954)

Handel der anderen Art wurde dagegen am nahen Mexikoplatz getrieben. „Mein Vater hat dort gut und billig bei den Schmugglern eingekauft. Die sind überall bei uns in der Engerthstraße gestanden, ein Schmuggler neben dem anderen. Die hatten eine Tasche dabei und haben die Leute angesprochen, ob sie Gläser oder eine Vase brauchen können.“ Andere Schwarzmarkthändler boten Kleidung an, was dazu führte, dass sich offene Hauseingänge in Garderoben verwandelten. „Die haben sich bei uns im Haus umgezogen und es lagen so viele Sackerln herum, dass man mit dem Kinderwagen schon gar nicht mehr durchgekommen ist. Das war schon arg“, erinnert sich Lauda. Heute sei der Mexikoplatz dagegen viel sicherer als damals. Den Schwarzmarkt vermisst die Dame genauso wenig wie jene Essigfabrik, die sich früher direkt gegenüber ihrer Wohnung befand (heute Gemeindebau Engerthstraße 189-191). „Die hat schrecklich gestunken. Wenn die ihre Abwässer abgelassen hat, konnten wir die Fenster stundenlang nicht öffnen.“

In den Wintermonaten verbrachte Lauda ihre Freizeit gerne auf der großen Eisfläche beim ehemaligen SPÖ-Heim in der Ausstellungsstraße. „Das war ein Betonblock, der in der Früh mit Wasser bespritzt wurde und der dann jeweils am Nachmittag fürs Eislaufen geöffnet war.“ Nicht weit entfernt davon gab es mit dem Wieselburger vis-a-vis vom heute leerstehenden goldenen Casinogebäude ein Ausflugslokal an der Ausstellungsstraße, in das sich die Eltern von Frau Lauda regelmäßig mit Arbeitskollegen bei Bier und Brez’n zusammengesetzt hatten. „Wir Kinder haben Kracherl getrunken und irgendwann kam immer der Zeitpunkt, an dem wir drei oder vier Schilling in die Hand gedrückt bekommen haben und in den Prater durften“, erinnert sich Lauda. Im Gegensatz zum Wieselburger existiert die Grüne Hütte noch heute: „Wenn sich Besuch angesagt hatte und wir zu wenig zu Essen daheim hatten, wurden ich oder einer meiner Brüder zur Grünen Hütte geschickt, die hatten auch am Wochenende offen.“

Geschickt wurden Inge Lauda und ihre Geschwister auch, um sich an Sonntagen im Sommer rechtzeitig beim Stadionbad anzustellen. „Einer von uns Dreien musste abwechselnd um sieben Uhr zum Bad runterfahren und sich bis zur Öffnung um acht Uhr anstellen, damit wir eine Kabine oder ein Kastl bekommen. Die Mama ist dann um zwölf mit dem Essen nachgekommen.“

Polditown.at dankt dem Bildarchiv Austria für die Zuverfügungstellung von Fotos im Rahmen der Serie „Damals in Polditown“. Titelbild: Die 1937 eröffnete zweite Reichsbrücke, (Foto: ÖNB/www.bildarchivaustria.at, um 1962)

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